“Škłatara” / 2013

Артур Клінаў: Шклятара. Мінск: Логвінаў

A cover of the book / Артур Клінаў: Шклятара. Мінск: Логвінаў 2013

“Škłatara” (Note: “Empties” – “Empty bottles and Jars”) is an autobiographic novel. First and foremost, this novel is an act of responsibility of Artur Klinau for himself. It is a high level of responsibility for his own life to write a novel about his own experience, make this experience open and available for everyone. The energy which makes the novel potentially interesting for any reader doesn’t depend on occupation or country of living.

The novel is closely connected to other pieces written by Atrur Klinau such as “The SunCity of Dream” and “Shalom”(Note: “The Helmet”).“The SunCity of Dream” is an immediate verbalization of Minsk space. “Shalom” is a verbalization of the place of the artists in our space. From this point of view, “Škłatara” is one step higher as it contains a wider verbalization where the author aims to tell about our space and time, and how a man lives this space and time. Artur as if a spy or a partisan tells about what is happening in our restricted cultural environment and gives a broader description of what is happening within the country.

It is a kind of a partisan report from the closed territory that could mean both the cultural environment and the main character’s soul.We hear the voice of a man who speaks from within his existential situation. Each of us has the same situation: we live and we will die”.

Iryna Hierasimovič. Fuss and Futility of “Škłatara”/ www.partisanmag.by

“Škłatara” is a wonder full reminder that today we are voyeurs, we want to or not. In a theater seat, on a sofa at home, in front of the computer screen we are peeping. Only the windows change: from “we want to or notHouse-2” TV show we switch to a popular facebook page or a new book by Klinau in which the author hyper realistically portrays a love triangle against a background of the Square events. The book has another story line based on Jan Barščeuski (Note: Belarusian Br.Grimm) stories.

A terrifying and at the same time mysterious atmosphere of defeat is renewed in the “historic” line of Klinau’s novel. It actually raises the same question as the modern part about “the empties” does. How to remain a human being and not turn into an animal? How to fight against the evil and not become a killer? How to serve Homeland and not Empire? Is it possible to love Homeland while being in a foreign land and how to do it? The author quite compulsively repeats the same ideas, though he expresses them differently in terms of style that hardly anyone can spot a link between the two parts of the novel.

Meanwhile, it is the intersection of these two story lines that creates the holographic effect which gives the novel the effect of realism. It is not a documented cognoscibility of events and heroes, an extreme integrity or explicit foul Russian language on pages of the book. It is a skillful intersection created through an endless reflection of self-quotation”.

Hanna Kislicyna “Who’s there in a white coat?” / www.gedroyc.by

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Škłatara/ Altglas[1]

Aus: Artur Klinaŭ: PARTISANEN. Kultur_Macht_Belarus. Berlin: edition.fotoTAPETA 2014, S. 91-101.
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler

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Für Sportler ist der Platz die in einem Wettbewerb erreichte Position auf der Rangliste. Für Architekten – eine größere, mit Gebäuden und Gewächsen umbaute Freifläche. Für uns ist der Platz der Akt der Vergebung und des Opferns, auf den die Katharsis folgt. Unser Platz ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Er kann am Oktober-, am Lenin- oder am Kołasplatz stattfinden – kaum jedoch auf der Hundewiese am Bangaloreplatz, wohin das Kanzelariat ihn regelmäßig abschiebt. Mögliche Adressen wären die Niamiha, Kurapaty oder der Torplatz am Bahnhof. Aber wo die Opferung vonstatten geht, ist so unerheblich wie die Zahl der Beteiligten: fünf, zehn, hundert, Abertausende …Was zählt, ist allein der Akt.

Die Zeit, in der der Platz etwas bewirkt hat, ist in den Neunzigern stecken geblieben. Die Zeit, in der der Platz wieder etwas bewirken wird, ist noch nicht gekommen. In der Zwischenzeit ister ein heidnisches Ritual, das man pflichtgemäß absolviert, um zu zeigen, dass der Untergrund noch existiert. Die Anlässe sind allgemein bekannt: Freiheitstag, Totengedenktag, Tschernobyl-Marsch. Wer gekreuzigt wird, weiß vorher niemand so genau. Ein Lamm wird nicht eigens hergerichtet. Ein Schamane aus den Reihen der Parteiführung kann genauso in der Feuerschale landen, wie ein zufälliger Passant von der Bushaltestelle. Natürlich wird der arme Teufel brüllen: „Lasst mich laufen, ich warte nur auf das Linientaxi nach Uručča!“Aber er bekommt trotzdem die Fresse poliert und darf dann mit dem Sondertaxi fahren.

Überall schwirren die allgegenwärtigen Hugonen[2]herum und versuchen, sich unters Volk zu mischen. Manchmal stellen sie ein Viertel, mit den Reportern und den Albertsaus den Botschaften sogar bis zur Hälfte der Platz-Teilnehmer. Die Herren Scaramoucheaus der schillernden Parteiaristokratie sind den Hugonen längst bekannt und damit uninteressant, außerdem veranstalten die immer so ein Geschrei. Neue Gesichter sind gefragt. So spähen sich die Hugonen die markantesten aus, warten auf ein Nicken von Kanzelariats-Geheimrat Tvardoŭski, woraufhin sie die armen Teufel in einen der Riesenlaster mit platter Schnauze und vergittertem Fahrgastraum schleifen. Sie schlagen ordentlich zu, aber sie schlagen nicht tot. Für den Tod gilt in diesem Spiel ein Moratorium. Die Regeln sind hinlänglich bekannt. Im Verzeichnis der Dienste zum Opferfest ist in der Rubrik „Verabfolgung lebensgefährlicher Verletzungen“ kein Kreuzchen gesetzt.

Alle haben Angst davor, das Lamm zu töten, vor allem das Kanzelariat selbst. Daher winken den Opfern in der Regel fünfzehn Tage Haft in der Obdachlosenzelle. Scaramouches werden gerne auch zu mehr verdonnert – zwei Jährchen, drei, vier.

Doch alle fünf Jahre tritt ein besonderer Platz zusammen, der große Fünfjahres-Konvent. Zu den gewöhnlichen kommt meist ausschließlich der Untergrund. Aber hierher strömen sie wie zu einem heidnischen Fest mit Kind und Kegel, Frauen, Kollegen und Freunden. So mancher, der fünf Jahre lang den Mund gehalten hat, fühlt sich nun verpflichtet, sich von dieser Sünde freizukaufen.

Dieser besondere Platz wird akribisch vorbereitet. Schon einen Monat im Voraus werden in den Geschäften Schlafsäcke und Zelte knapp. Im Internet kursieren Tipps und Informationen, was man anziehen sollte, was mitnehmen, welche Sänger auftreten, was man besser nicht trinkt, wo Zugereiste übernachten können, was zu tun ist, wenn das Kesseltreiben beginnt. Auch das Kanzelariat ist nicht faul. Sondereinheiten werden in der Stadt zusammengezogen undAnschlagsgerüchte gestreut: Bomben sollen hochgehen, also bleibt mal lieber zu Hause, bist das Gröbste überstanden ist.

Früher war ich bei jedem Platz dabei, dann habe ich mich auf die wichtigsten beschränkt, bis ich das Interesse gänzlich verloren hatte. Aber den Fünfjahres-Konvent habe ich nie ausgelassen. Schon auf dem Weg in die Innenstadt habe ich die angrenzenden Quartiere abgefahren, um mir ein Bild von der Stimmungslage beim Kanzelariat zu verschaffen. Wenn sie reichlich zulangen wollten, parkten sie die Fahrzeuge mit den Kosmonauten meistens nicht nur in den Höfen, sondern auch demonstrativ auf der Straße. Diesmal sah alles ruhig aus. Bestimmt waren sie irgendwo, aber sie hielten sich im Dunkel der Höfe verborgen. Die Leute strömten schon aus allen Ecken der Stadt zum Oktoberplatz. Hinter dem GUM, in der Nähe von Sciopins Haus,stellte ich das Auto ab und lief gleich der Sierada in die Arme, die das Untergrundtheater leitet. Ich beglückwünschte sie zum Feiertag und machte mich auf ins Centralny. Bis acht war noch etwas Zeit für einen Kaffee und einen Blick in die Runde.

Gewöhnlich fing die Zeremonie genau so an. Die Leute sammelten sich in der nächsten Umgebung, drängten aber nicht auf den Platz. Manche taten so, als warteten sie auf das Linientaxi nach Uručča, andere gönnten sich noch einen Kaffee oder schlenderten scheinbar zufällig den Prospekt entlang. Freilich marschierten einige auch direkt auf den Platz, vor allem die jüngeren Aktivisten. Wenn die Zeremonie aber dem strengen Ritus folgte, wurden sie zuerst verprügelt. Nach der dritten Tracht Prügel hatten viele dann die Schnauze voll. Sie wurden entweder Parteiführer oder gingen in Zukunft etwas vorsichtiger zu Werke.

Aber diesmal sah die Lage vor den Schaufenstern des Centralny ruhig aus. Der Platz füllte sich, Hugonenin Zivil warfen den Passanten scheele Blicke zu, aber die Kosmonauten hatten sich nicht zu Sperrriegeln formiert. Nur die Straßenpolizei hatte am Prospekt alle drei Meter einen Posten abgestellt, was darauf schließen ließ, dass man den Platz nicht gewaltsam räumen würde. Dass kein großes Opferfest geplant war, konnte man schon vorher absehen. Europa war bereit, die Wahlen anzuerkennen, da hätte ein großes Haudrauf an den Haltestellen die ganze Operation zunichte gemacht, die über Monate so minutiös vorbereitet worden war. Das wäre nicht nur der sprichwörtliche Wermutstropfen im Topf mit dem süßen Kanzelariatshonig gewesen, sondern ein regelrechter Eimer voll reinsten Bockmists.

Selbst eine bescheidene Opfergabe konnte niemand gebrauchen. Europa, das unsere barbarischen Rituale schon seit Jahren empört mit ansah, hatte sich schwer damit getan, den Imperator anzuerkennen. Nachdem diese bittere Pille geschluckt war, kam es darauf an, bei der anschließenden Krönung wenigstens das Gesicht zu wahren. Der Imperator wiederum brauchte die Vorschusskrone um jeden Preis, und wenn sie dreimal von Pappe war. Ihm war klar, dass Europa ohnehin schon sämtliche Augen zugedrückt hatte, ein großes Gemetzel vor laufenden Kameras aber nicht durchgehen lassen würde.

Als ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, ging ich auf den Platz. Immer mehr Menschen kamen. Sie waren anders gestimmt als noch vor fünf Jahren. Damals waren alle in Alarmbereitschaft. Diesmal herrschte fast Festtagsstimmung. Aus den Lautsprechern, die rund um den Platz aufgestellt waren, tönten fröhliche Melodien –ein kleines Zuckerl des Kanzelariats zum Feiertag. Zu den beschwingten Volksliedklängen von Jaś, der zweideutig die Sense rauschen ließ, erinnerte das ganze Geschehen an verspätete, winterliche Dažynki –das große, imperiale Erntefest. Fehlten nur noch die Jahrmarktbuden mit Bratwurst und Wodkaauschank und das Ensemble „Charoški“ auf den Stufen vor dem Palast der Republik –die Illusion des Kolchoskarnevals wäre perfekt gewesen. Gleich würden es sich die Leute, untermalt von Ich bette mich sanft am trauten Pfad,in Grüppchen auf Schneehaufen gemütlich machen, die großen Bierflaschen rausholen und schenkelklopfend ihre Würstchen grillen.

Eigentlich sangen die Lautsprecher gar nicht für die Demonstranten, sondern für diejenigen, die auf Schlittschuhen ihre Kreise um den gut und gerne zwanzig Meter hohen, mit festlichen Girlanden geschmückten Tannenbaum zogen. In der Adventszeit wurde auf dem Platz jedes Jahr eine Eisfläche präpariert, aber noch nie hatte sie solche Ausmaße angenommen. Man hatte keine Mühen gescheut und sie fast auf den gesamten Platz ausgedehnt. Deshalb drängten sich die Demonstranten an den Rändern und auf den Bürgersteigen der anliegenden Straßen. Auf der riesigen Eisfläche vergnügten sich ausgelassene Hugoninnen undHugonen. Dass sie es waren, stand außer Frage. Welcher normale Mensch wäre auf die Idee gekommen, um diese Zeit auf dem Platz Schlittschuh zu laufen, wo vielleicht gleich das Hauen und Stechen losgehen würde und man auf Kufen nicht einmal bis zum nächsten Torbogen käme. ZuForsch ließ Jaś die Sense rauschenschwangen die Hugonenmunter die Arme, als wären sie tatsächlich mit Sensen bei der Mahd. Zu Ich bette mich sanftlandete immer wieder jemand auf der Nase, um, anmutig wie ein weißer Schwan auf dem See, mit dem Gesicht übers Eis zu gleiten. Ja. Das war es! Ein nächtlicher Hugonen-Schwanensee. Sie tanzten, kleine graue Schwanenkinder, um den Tannenbaum.

Nein, wie dumm von Europa, das hier als Diktatur zu bezeichnen! Es war nie eine Diktatur, sondern immer nur Spiel. Wenn überhaupt, dann eine Diktatur neuen, bislang unbekannten Zuschnitts –postmodern, ironisch, bisweilen lustig, dann wieder traurig, gespickt mit Zitaten, ein bunter Stilmix. Sie konnte Hitler zitieren, aber ironisch, nicht ernst gemeint. Sie konnte Sowjetunion spielen, aber nur im Fernsehen und bei der Kolchosversammlung, denn im Marxismus lebt schon längst niemand mehr, und die sowjetischen Preise sind Vergangenheit. Sie hat es sogar fertiggebracht, den Platz des himmlischen Friedens zu zitieren, ohne Blut, versteht sich. Denn wenn Blut fließt, hört der Spaß auf. Nur einmal, Ende der der neunziger Jahre, hat sie sich über die Spielregeln hinweggesetzt. Darüber ist sie aber selbst am meisten erschrocken.

Das hier ist doch bloß ein nettes Spiel, in dem es eigentlich keinerlei Verbote gibt. Du willst auf den Platz gehen? Nur zu, rein in die Schlittschuhe und los! Du willst Fernsehdebatten –hier hast du eine Live-Sendung im Zerrspiegel, damit die Leute dich besser betrachten können. Du willst etwas Kritisches loswerden –wende dich an eine der beiden auflagenstarken Zeitungen, Land und Freiheit oder Unser Ghetto. Du willst eine nicht linientreue Zeitschrift herausgeben –auch das ist nicht verboten. Du bekommst nur keine Anzeigenkunden und musst dein Blatt unter der Hand in den Hofeingängen verkaufen. Und nicht böse sein, wenn die Miliz vorbeikommt.Du verstößt eben gegen die Einzelhandelsbestimmungen.

Zunächst haben viele nicht kapiert, dass das ein Spiel ist. Sie bekamen es beigebracht. Mit der Zeit kamen sie immer besser zurecht, fanden in ihre Rolle, verinnerlichten das Vokabular und die Grenzen, die man besser nicht überschritt. Die Geschäftsleute hatten als erste verstanden, wie man spielt und mit wem. Dann setzten die Rodźka-Fischer und die Karp-Proletarier, die in der Postmoderne nicht so firm waren, ihre drei Kreuze unter den Vertrag. Sogar die Unterwelt akzeptierte die neuen Regeln. Obwohl sie die warmen Restauranthöhlen räumen und mit stinkigen Bierkneipen vorlieb nehmen musste.

Am längsten sträubten sich die Parteiler, die noch dazu das Publikum mit Faustkämpfen unterhielten. Sie riefen: „Das Regime ist schlecht!“ und kloppten aufeinander ein, bis das Blut aus der Nase troff. Und mit jedem Schlag zerbröselten sie ein wenig mehr. Aus Frontlern wurden Christfrontler, Zivilfrontler, Westfrontler und Jungfrontler. Aus Gewerkschaftern wurden Metaller, Textiler und Traktoristen. Aus Mahiloŭern wurden Kličaŭer, Babrujsker und Škłoŭer.Als sie sich dann klein gekriegt hatten, wies ihnen das „schlechte Regime“ auch ohne Vertrag die Rolle des Pausenclowns zu. Weniger gut sah es für diejenigen aus, die ihren Platz im Spiel einfach nicht finden konnten und immer weiter riefen: „Das Regime ist schlecht!“Sie wanderten meist in den Bau. Der war freilich auch postmodern, unterhaltsam und schmachvoll – fünfzehn Tage unter Pennern. Professionelle Scaramouchestraf es härter, aber auch das nicht besonders häufig, solange sie sich an die Spielregeln hielten.

Mit der gebotenen Anerkennung für den ironischen Gehalt der Inszenierung stürzte ich mich in das bunte Treiben unterm Baum und suchte nach Bekannten. Seltsamerweise begegneten mir kaum noch Leute von der alten Untergrundgarde, die sonst immer auf den Platz gekommen waren. Dafür sah ich zahlreiche junge, neue Gesichter. Allerdings hatten sich inzwischen rund um die Eisbahn auch an die zehntausend Menschen versammelt. In der Dunkelheit Bekannte auszumachen, die irgendwo um den Platz verteilt standen, war nicht eben einfach. Ich fand nicht einmal meine Tochter, die mit Freunden hier unterwegs sein musste. Es war schon kurz vor acht, aber von den führenden Parteischamanen war noch nichts zu sehen. Das ganz große Opferfest war wohl für heute nicht vorgesehen, offenbar ließen sie sich deshalb so viel Zeit. Ich merkte bald, dass ich fror. Es war gar nicht so kalt, aber Nässe und Wind gingen durch und durch. Ich hatte eben die Ratschläge im Internet nicht befolgt und war im italienischen Dandymantel, leichten Hosen und natürlich nicht in Filzstiefeln, sondern in italienischen Dandyschuhen auf den Platz gekommen. Rasch hatte ich befunden, dass der Abend ebenso spielerisch zu Ende gehen würde, wie er begonnen hatte, stieg in mein Auto und fuhr nach Hause.

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Unter den vielen Demokratiezitaten war eines besonders eindrucksvoll geraten.Die Livesendung auf dem ersten Kanal, zu der neben dem obligatorischen Kanzelariat auch Leute aus dem Untergrund geladen waren, ging in die zweite Stunde. Auf dem Podium saßen der Leiter des zentralen Wahlkomitees, Wahlbeobachter, Journalisten und ein Redakteur von Land und Freiheit. Die gemütliche Teerunde hatte sich um eine meterhohe, mit raffinierten Sahneröschen verzierte Hochzeitstorte versammelt. Jeder durfte ein Stückchen probieren. Wer gerade an der Reihe war, ließ ein klebriges Zungenschnalzen hören und stimmte Loblieder auf den begabten Konditor an. Selbst die Opponenten wirkten, obwohl sie die übertriebene Süße und den Mangel an Eiern und Vanille beanstandeten, im Grunde ganz zufrieden und machten keinerlei Anstalten, ihrem Nachbarn die Torte vor den Latz zu knallen. Schon bei der bloßen Betrachtung dieser harmonischen Teerunde bekam ich selbst einen süßlichen Geschmack im Mund.

Die Livesendung war auf mehrere Stunden angelegt, parallel zur Auszählung der Stimmen. Aber gegen kurz vor elf war plötzlich eine gewisse Irritation in den Zügen des Moderators auszumachen, als wäre er in seinem Tortenstück unvermittelt auf eine tote Fliege gestoßen. Die Hand an den Knopf im Ohr gepresst, empfing er eine Nachricht aus der Redaktion, und an der Geschwindigkeit, mit der die Süße seinem Gesicht entwich, konnte ich ablesen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

Kurz darauf erklärte der Moderator mit sorgenvoller Miene, es gebe nun eine Videoeinspielung vom Platz. Und schon war das Bild da:Mit Stangen bewaffnete Menschen versuchten die Türen des Grauen Hauses aufzubrechen. Völlig perplex starrte ich auf das wilde Gemetzel. „Sie stürmen das Regierungsgebäude“, stammelte der Moderator wie erschlagen und offenbar genauso schockiert wie ich. Allen war klar: Der schlimmste Fall war eingetreten. Ich stürzte zum Computer, versuchte die Seite von Unser Ruf aufzurufen, aber die ließ sich nicht öffnen. Unser Ghetto schrieb, Unbekannte hätten die Türen des Regierungsgebäudes zertrümmert, Svaboda meldete, die Kundgebung werde gewaltsam aufgelöst.

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„Hollywood ist mit uns!“ –rief die Sierada vom Lenindenkmal aus und verlas die Namen bekannter Schauspieler, die in Gedanken bei uns waren. Zur selben Zeit kam tatsächlich eine unvorstellbare Menge Hollywoodstatisten mit schwerem Gerät auf den Platz gefahren. Immer mehr Leute kletterten auf die Tribüne zu Füßen des Führers des Weltproletariats und riefen dazu auf, zusammenzubleiben, während sich beim Regierungsgebäude schon seit fast einer Stunde etwas tat, ohne dass Jan hätte erkennen können, was genau. Das Klirren zerspringenden Glases und das Zittern des Tannenbaums ließen vermuten, jemand versuche in das Gebäude vorzudringen.

Noch vor den Grüßen aus Hollywood hatte sich Iljičeŭski mit blutendem Kopf auf der Tribüne gezeigt, mit sich überschlagender Stimme etwas von Provokation gebrüllt und die Miliz dazu aufgerufen, sich auf die Seite des Volkes zu stellen. Jan spürte, dass sie bald losschlagen würden, aber es wäre ihm peinlich gewesen, jetzt zu gehen. Außerdem blieben die Leute um ihn herum auch da. Sie skandierten: „Miliz zum Volk!“ –wussten aber nicht, was weiter zu tun war. Die Miliz war tatsächlich schon vor einer Viertel Stunde zum Volk gekommen. Einen Gutteil des Volkes hatten sie in dem Geviert vor dem Regierungsgebäude bereits eingekesselt. Die Losungen von der Tribüne richteten sich nun eher an die Neuankömmlinge, sie handelten von friedlichem Protest, jemand bat über Megafon um einen Krankenwagen – offenbar gab es bereits erste Opfer – ein anderer rief zu Verhandlungen auf. Kurz darauf schallte ein Freudenschrei über den Platz: „Sie ziehen ab!“Die Kosmonauten, die die Leute am Regierungsgebäude isoliert hatten, zogen sich plötzlich zurück, und für einen Moment wagten alle zu hoffen: „Vielleicht ist ja das Wunder geschehen, und wir haben gesiegt?“

Aber kurz darauf bemerkte Jan, wie an der Westseite des Platzes gepanzerte Miliztransporter und Militärfahrzeuge auffuhren. Da stieg der Dichter Habryłovič auf das Lenindenkmal und sang zur Gitarre eine Ballade katalanischer Partisanen. Zum ersten Mal an diesem Abend empfand Jan, dass ihn das Gehörte berührte. Er spürte förmlich, wie eine Woge fiebriger Einigkeit den gesamten Platz erfasste. Was zuvor von der Tribüne gesagt worden war, hatte die Menschen nicht zusammengeschweißt. Es schien immer irgendwie fehl am Platz. Als sprächen die Redner nur mit sich selbst. Die einen wussten vor Aufregung nicht, was sie sagen oder tun sollten. Bei anderen, die es wussten, kamen die Aufrufe über leere Deklarationen nicht hinaus. Sie hatten sich ihre ideale Welt erträumt, von der aus sie die Realität verachten konnten. Nur ließ sich die Realität davon nicht beeindrucken. Sie war immer noch da, kollidierte mit ihren Träumen und ließ sie als gebrochenes Trugbild erscheinen.

Und dann ging es los. Von allen Seiten stürmten Kosmonauten auf den Platz. Nie zuvor hatte Jan so viele auf einmal gesehen. In nicht enden wollenden Phalangen schoben sie sich auf den Platz und teilten ihn auf. Als erste wurden wieder diejenigen eingekesselt, die unmittelbar vor dem Regierungsgebäude standen. Sie hatten praktisch keine Möglichkeit zu fliehen. Von drei Seiten waren sie eingemauert. Sie konnten höchstens versuchen, sich als ein massiver Block zum Platz hin durchzuschlagen. Aber auch der war von allen Seiten umstellt. Die offene Flanke zum Prospekt wurde zügig von den herangekarrten Soldaten abgeriegelt. Zur Einschüchterung mit ihren Schilden rasselnd, zerteilten die Phalangen den Platz, schlugen aber noch nicht los. Sie zogen erst die Linien auf diesem gigantischen Schachbrett und stellten die Figuren auf. Die schwarzen Türme – riesenhafte plattschnäuzige Miliztransporter – ragten schon bedrohlich an den Ecken auf. Schwarze Damen und Springer sagten boten dem gegnerischen König und seinen Läufern Schach an und mauerten sie beim Lenindenkmal ein. Noch ehe die Partie begonnen hatte, war das weiße Mittelfeld schon verloren. Weiß konnte nur noch seine Bauern aufstellen.

Wenn Schwarzseine Figuren nur auf der Westseite des Platzes in Gefechtsordnung postiert hätte, wäre Weiß zuerst am Zug gewesen, und die vierzigtausend Mann wären nach Osten zum Oktoberplatz gestürmt. Eine Massenpanik wäre unvermeidlich gewesen. Aber Schwarz wollte keine weißen Opfer, sondern nur Einschüchterung und Sanktion. Daher wurden die Figuren so angeordnet, dass es kein Entrinnen gab. Jan erkannte, dass Schwarz den ersten Zug tun würde, sobald die Reihen seiner Bauern an Ort und Stelle wären. Noch blieb die letzte Hoffnung, dass die ganze Partie vielleicht nur der Einschüchterung dienen sollte. Dass das Signal ausbleiben würde und sie doch noch gehen könnten. Aber kurz darauf kam es. Schwarz zog, und das Chaos nahm seinen Lauf. Sie schienen von allen Seiten zugleich zu kommen, niemand wusste, wohin er sich retten sollte. Einige kamen Jan entgegen gerannt, andere flohen nach Westen, wieder andere nach Osten. Alle suchten panisch nach einer Lücke. Nach einem schnellen Satz auf eine hohe Marmorbrüstung erkannte Jan aus dem Augenwinkel, dass vor dem Regierungsgebäude das Gemetzel schon begonnen hatte. Hunderte schwarzer Schlagstöcke flogen aus dem Gewimmel auf, als sei ein gigantischer Mähdrescher am Werk. Nun war wirklich Hollywood: ein üppiges Schlachtenpanorama mit zehntausenden Statisten.

Als Jan am Prospekt einen kleinen, noch nicht von Soldaten abgeriegelten Abschnitt erspähte, hastete er zwischen zwei Reihen schwarzer Bauern darauf zu. Auf dem Prospekt selbst, den niemand zu sperren gedachte, floss der Verkehr. Bis zum rettenden, jenseitigen Ufer war ein achtspuriger Fluss zu durchqueren. Jan sah, dass schon an vielen Stellen Menschen auf die Fahrbahn sickerten. Im Vergleich zu dem, was ihnen im Nacken saß, sahen sie darin offenbar das deutlich kleinere Übel. Glücklicherweise hielten die Autofahrer an, als sie die Flüchtenden sahen, sie bekundeten sogar hupend ihre Solidarität. Über dem Platz gellte die Kakophonie eines vielstimmigen Hupkonzerts. In der Roten Kirche wurde Sturm geläutet. Überall waren die verzweifelten Schreie von Frauen zu hören, alle schimpften auf die Faschisten.

Jan schlüpfte zwischen den Autos hindurch auf die andere Seite des Prospekts, rannte noch ein paar Meter, begriff dann, dass er hier erst einmal in Sicherheit war und blieb stehen, um zu verschnaufen. Als er zurückschaute, sah er eine große Menschenmenge vor der Roten Kirche, die offenbar darauf gehofft hatte, man würde sie im Angesicht der Kirchenmauern nicht so hart anfassen. Aber die schwarzen Bauern waren schon unterwegs. Der wirbelnde Mähdrescher fuhr in die Menge und schob sie in die Transporter. Blindwütig vor Verzweiflung, Hass und Ohnmacht konnte Jan nur noch mit den anderen, die es über den Prospekt geschafft hatten, brüllen: „Faschisten! Faschisten! Faschisten!“

© Артур Клінаў: Шклятара. Мінск: Логвінаў 2013

[1]     Auszug aus Artur Klinaŭs Roman Altglas (Minsk, Łohvinaŭ 2013)

[2] Die merkwürdigen Bezeichnungen für einzelne Typen hier und im Folgenden beziehen sich zumeist auf charakteristische Figuren aus «Der Adlige Zavalnia» von Jan Barščeŭski, der für Klinaus Roman eine wichtige Vorlage bildet.